#RGCfragtnach: Interview mit Insolvenzrechtler Martin Gehlen zu den Wechselwirkungen von energierechtlichen Privilegien mit dem Insolvenz und Restrukturierungsrecht
Dr. Franziska Lietz spricht mit Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter Martin Gehlen von der Kanzlei Römermann Rechtsanwälte über aktuelle insolvenz- und restrukturierungsrechtliche Fragen und wie diese mit den Anforderungen von energierechtlichen Privilegien zusammenhängen.
Lietz: Hallo, mein Name ist Franziska Lietz, ich bin Rechtsanwältin bei Ritter Gent Collegen. Die Kanzlei Ritter Gent Collegen berät bundesweit produzierende und vor allem energieintensive Unternehmen im Energie- und Umweltrecht.
Ich unterhalte mich heute mit Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter Martin Gehlen von der Kanzlei Römermann Rechtsanwälte, einer führenden Kanzlei im Restrukturierungs- und Insolvenzrecht. Wir sprechen darüber, worauf Unternehmen achten müssen, die energierechtliche Privilegien nutzen und, z.B. im Rahmen der Corona-Krise, in wirtschaftliche Bedrängnis geraten sind.
Hallo Martin, vielen Dank, dass Du Zeit gefunden hast, damit wir uns die Wechselwirkungen dieser beiden Themenkreise einmal anschauen können.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben denn in wirtschaftliche Schieflage geratene Unternehmen generell?
Gehlen: Hallo Franziska, zunächst einmal herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch.
Grundsätzlich musst Du zunächst einmal feststellen, wo das Unternehmen steht. Dazu bedarf es unbedingt einer aktuellen Liquiditätsplanung für einen Zeitraum von mindestens 13 Wochen. Diese sollte, wenn es finanziell eng ist, unbedingt auf Wochenbasis geführt werden.
Ist es zahlungsunfähig oder überschuldet und besteht eine Verpflichtung, einen Insolvenzantrag zu stellen, sind andere Maßnahmen einzuleiten, als wenn keine Pflicht besteht, einen Insolvenzantrag zu stellen.
Besteht eine Pflicht, einen Insolvenzantrag zu stellen, ist zu prüfen, ob dieser kurzfristig abgewendet werden kann und wie wahrscheinlich dies ist. Oftmals besteht das Risiko, dass sich Geschäftsführer einen Strohhalm klammern, den es faktisch gar nicht mehr gibt, weil sie das Unternehmen nicht aufgeben wollen, was menschlich auch völlig nachvollziehbar ist. Das Problem ist nur, dass sie dadurch das Risiko der persönlichen und strafrechtlichen Haftung erheblich vergrößern. Dies geschieht oft aus Unwissenheit darüber, welche Möglichkeiten das Insolvenzverfahren bietet. So kannst Du unter bestimmten Voraussetzungen ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung durchlaufen und vermeidest damit, durch einen Insolvenzverwalter fremdgesteuert zu werden. Zudem kannst Du Dich im Insolvenzverfahren nicht nur von Altlasten lösen, sondern auch ohne die Berücksichtigung von Kündigungsfristen oder mit erheblich kürzeren Kündigungsfristen von bestimmten Verträgen lösen. Schließlich hast Du durch die Inanspruchnahme von Insolvenzgeld für maximal drei Monate einen großen Hebel, um in dieser Zeit ohne Personalkosten eine Sanierungslösung auf den Weg zu bringen, sei es durch Verkauf oder auch Erhalt des Unternehmens durch den Abschluss eines Insolvenzplans.
Besteht keine Pflicht, einen Insolvenzantrag zu stellen, bist Du in der außerinsolvenzlichen Sanierung bzw. Restrukturierung, denn dann hast Du die Zeit, um ein Sanierungskonzept zu erstellen und Restrukturierungsmaßnahmen zu entwickeln. Das Ziel ist die Optimierung meist finanzieller und organisatorischer Prozesse sowie des Portfolios. Wesentlich ist dabei die Frage, ob neues Kapital, entweder von Gesellschaftern als Eigenkapital bzw. Darlehen, oder von Dritten, meist Banken, zugeführt werden kann. Dabei ist auch die Stellung von Sicherheiten interessant. Ebenso richtet sich der Blick auf die Verkürzung von Zahlungszielen bei eigenen Rechnungen sowie die Verlängerung von Zahlungszielen bei Fremdrechnungen. Auch Schuldenerlasse und Stundungsvereinbarungen sind zu prüfen.
Lietz: Hängt es für die Frage, wie das Unternehmen die Sache angehen sollte, davon ab, in welchem Stadium wir uns befinden bzw. in welchem Stadium deine Beratung beginnt?
Gehlen: Leider kommen mehr als 90 % der Unternehmen viel zu spät, um sich beraten zu lassen. Dies liegt nach meiner Erfahrung entweder daran, dass die Geschäftsleitung mangels Sensibilität für dieses Thema keine regelmäßig aktualisierte Liquiditätsplanung haben oder sich Ihrer Situation bewusst sind, aber ihr Lebenswerk nicht aufgeben wollen, was menschlich total nachvollziehbar ist. Natürlich ist dies kein angenehmes Thema, aber angesichts der erheblichen zivil- und strafrechtlichen Haftungsrisiken für Geschäftsführer sollte dies ernst genommen werden.
Die rechtzeitige Beratung ist vor allem dann erforderlich, wenn für das Unternehmen aufgrund seiner konkreten Situation eine sehr spezifische Beratung, ggf. mit mehreren hochspezialisierten Beratern, notwendig wird. Das wäre z.B. auch dann der Fall, wenn das Unternehmen eine Stromerzeugungsanlage, z.B. eigenes Kraftwerk, zur Eigenversorgung betreibt. Welche energierechtlichen Weichenstellungen wären denn im Rahmen der Restrukturierungsberatung bei einem Eigenerzeuger zu beachten?
Lietz: Das kann man nicht pauschal sagen, da man hier z.B. mit Bezug auf Art, Alter und Größe der Erzeugungsanlagen sehr unterschiedliche Konstellationen vorfinden kann, die energierechtlich auch sehr unterschiedlich zu bewerten sind. Eine fachlich fundierte Bewertung des konkreten Einzelfalles sollte bei einem Eigenversorger mit eigenem Kraftwerk daher in jedem Fall stattfinden.
Grundsätzlich ist es so, dass Unternehmen, die in eigenen Anlagen selbst erzeugten Strom verbrauchen, ganz oder teilweise von der EEG-Umlage befreit sein können. Die EEG-Umlage schlägt die ansonsten mit rund 7 ct pro Kilowattstunde verbrauchten Stromes zu Buche, der Verlust einer solchen Privilegierung kann also große wirtschaftliche Bedeutung haben, gerade für ein angeschlagenes Unternehmen.
Alle Eigenerzeuger-Privilegien im EEG sehen vor, dass der Betreiber der Stromerzeugungsanlage und der Betreiber der Verbrauchseinrichtungen der identische Rechtsträger sind. Bei der Restrukturierung eines Eigenerzeugers sollte also generell darauf geachtet werden, dass die Stromerzeugungsanlage und die maßgeblichen Verbrauchseinrichtungen, also bspw. große Produktionsanlagen wie Schmelzöfen oder Papiermaschinen, beim gleichen Rechtsträger angesiedelt werden.
Viele Betreiber von älteren Stromerzeugungsanlagen genießen außerdem zusätzliche Privilegien als sog. Bestandsanlagen und müssen überhaupt keine EEG-Umlage zahlen. Der Bestandsschutz des EEG erfasst aber grundsätzlich nur die vorhandene Eigenerzeugungskonstellation. Das bedeutet, wenn die Stromerzeugungsanlage auf einen anderen Rechtsträger wechselt, hat dies zur Folge, dass der Bestandsschutz entfällt und die volle oder zumindest eine anteilige EEG-Umlage zu zahlen ist. Bestreibt das Unternehmen also Bestandsanlagen im Sinne des EEG, die vor August 2014 in Betrieb genommen wurden, sollte der Rechtsträger, der die Stromerzeugungsanlagen betreibt, möglichst nicht geändert werden.
Gehlen: Und wie sieht es bei energieintensiven Unternehmen aus, die keine eigene Stromerzeugungsanlage betreiben? Was ist hier zu beachten?
Lietz: Energieintensive Unternehmen können im Hinblick auf ihren Strompreis eine Reihe von Privilegien nutzen, die von einer Vielzahl von Voraussetzungen abhängen. Ob diese durch eine Restrukturierung oder Insolvenz gefährdet werden, muss ebenfalls im konkreten Einzelfall geprüft werden.
Etliche energierechtliche Privilegien hängen beispielsweise von einem bestimmten Mindestverbrauch des jeweiligen Unternehmens. Z.B. erfordert eine Privilegierung durch sog. Individuelle Netzentgelte nach § 19 Abs. 2 StromNEV 7000 sog. Vollbenutzungsstunden, andere Privilegien wie bspw. die sog. Besondere Ausgleichsregelung nach §§ 63, 64 EEG sehen den Mindestverbrauch von einer Gigawattstunde Strom vor. Auch muss für die Besondere Ausgleichsregelung die sog. Bruttowertschöpfung berechnet werden, wofür unter anderem die tatsächlichen Stromkosten aber auch bspw. Lohnkosten in die Berechnung einfließen. Bei einer Restrukturierung können diese Anforderungen entfallen, wenn ein Unternehmen aufgespalten wird, z.B. ein Teil der Produktionsanlagen auf ein anderes Unternehmen übertragen werden, sodass beide Rechtsträger für sich genommen die gesetzlichen Anforderungen nicht mehr erfüllen. Gerade bei der besonderen Ausgleichsregelung können damit Vorteile in Millionenhöhe entfallen. Nutzt ein Unternehmen also energierechtliche Privilegien, sollte die Restrukturierungsprüfung auch immer beinhalten, ob diese durch die geplanten Maßnahmen gefährdet werden und welche wirtschaftlichen Nachteile im Einzelfall entstehen.
Ein weiterer Stolperstein für angeschlagene Unternehmen kann das Kriterium des UIS, des sog. Unternehmens in Schwierigkeiten, sein. Nach EU-Recht dürfen Unternehmen, die sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, nämlich keine Privilegien mehr erhalten, die rechtlich sog. „Beihilfen“ darstellen. Dies betrifft vor allem Vergünstigungen bei der Strom- und bei der Energiesteuer, die diesen Unternehmen ab Eintritt des UIS-Status verwehrt sind. Ob dies auch für Privilegien im EEG gilt, ist derzeit aufgrund eines Urteils auf Europa-Ebene, welches deren Beihilfe-Eigenschaft in Frage stellt, unklar. Unternehmen, die einen Insolvenzantrag gestellt haben, gelten jedenfalls stets als UIS. Aber auch davor können Unternehmen schon dieser folgenschweren Definition unterfallen, wenn mehrere Kriterien vorliegen. Die EU-Kommission hat allerdings den Beihilfenverlust aufgrund der Corona-Pandemie aktuell bis Juni 2021 suspendiert, sofern sich das betreffende Unternehmen am 31. Dezember 2019 nicht in Schwierigkeiten befand.
Gehlen: Das sind zwar sehr spezifische Einzelfälle, aber ich kann mir vorstellen, dass diese in manchen Verfahren weitreichende Konsequenzen haben bzw. auch mal das „Zünglein an der Waage“ für den Fortbestand eines Unternehmens darstellen können.
Lass mich an dieser Stelle noch eine sehr aktuelle Entwicklung beschreiben, die in der Presse leider oftmals nicht korrekt dargestellt wird:
Um die Folgen der COVID-19-Pandemie abzumildern hat der Gesetzgeber rückwirkend zum 01. März 2020 das Insolvenzaussetzungsgesetz, kurz COVInsAG, in Kraft gesetzt. Danach ist allerdings entgegen einer weit verbreiteten Ansicht nicht grundsätzlich die Pflicht, bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung einen Insolvenzantrag zu stellen, ausgesetzt, sondern nur für solche Unternehmen, die durch die Folgen der Pandemie zahlungsunfähig oder überschuldet geworden sind.
Dadurch soll vermeiden werden, dass Unternehmen, die sich auch bereits vor dem 31.12.2019 in der Krise befanden und bei denen die Pandemie offensichtlich nicht ursächlich für die Krise war, den Schutz dieses Gesetztes genießen.
Am 02.09.2020 haben sich die Regierungsparteien sich darauf verständigt, die Insolvenzantragspflicht bis zum 31.12.2020 zu verlängern. Ganz wichtig ist hierbei allerdings, dass dies nur für den Insolvenzgrund der Überschuldung gilt, nicht aber für die Zahlungsunfähigkeit. Diese Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit endet am 30.09.2020. Wenn also ein Unternehmen zahlungsunfähig ist oder nach dem 30.09.2020 zahlungsunfähig wird, besteht auch wieder eine Pflicht, den Insolvenzantrag zu stellen. Wird dieser dann nicht oder verspätet gestellt, entstehen unter Umständen erhebliche Haftungsrisiken für den Geschäftsführer.
Vielen Dank für diesen spannenden Einblick!
Lietz: Ebenfalls vielen Dank für den Einblick in die Optionen bei der Restrukturierung und die Möglichkeit, diese mit den energierechtlichen Tatbeständen abzugleichen.