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Müssen Arbeitszeitguthaben vor Einführung der Kurzarbeit aufgebraucht werden?

Eine Möglichkeit, um auf Auftragsrückgänge und damit einhergehenden Arbeitsausfall aufgrund der Corona-Pandemie zu reagieren, ist die Einführung von Kurzarbeit. Da viele Unternehmen in Deutschland zum ersten Mal mit Kurzarbeit in Berührung kommen, wollen wir über häufige Fragen zur Kurzarbeit informieren.

In unseren letzten Beiträgen haben wir über Kurzarbeit im Allgemeinen, dem Erfordernis einer sog. Ermächtigungsgrundlage zur Einführung der Kurzarbeit  und den Anforderungen an eine Betriebsvereinbarung zur Einführung von Kurzarbeit, berichtet. 

In diesem Beitrag geht es um die Frage, ob Arbeitszeitguthaben auf Arbeitszeitkonten vollständig verbraucht werden müssen, bevor die Agentur für Arbeit Kurzarbeitergeld bezahlt. Grundsätzlich gilt, dass der Anspruch auf Kurzarbeitergeld nur entsteht, wenn die sog. „betrieblichen Voraussetzungen“ vorliegen. Welche dies sind, regelt § 95 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Zu diesen Voraussetzungen gehört u.a., dass ein erheblicher Arbeitsausfall vorliegt. Erheblich ist ein Arbeitsausfall nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 SGB III dann, wenn er unvermeidbar ist. 

Die „Unvermeidbarkeit des Arbeitsausfalls“ wird dann angenommen, wenn der Arbeitgeber im Betrieb alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen hat, um den Eintritt des Arbeitsausfalls zu verhindern. Als vermeidbar gilt ein Arbeitsausfall, wenn die Regelbeispiele in § 96 Abs. 4 Nr. 1 – 3 SGB III vorliegen. Eines dieser Regelbeispiele besagt, dass ein Arbeitsausfall vermeidbar ist, wenn er durch die Nutzung von im Betrieb zulässigen Arbeitszeitschwankungen ganz oder teilweise vermieden werden kann

Doch Rettung naht, der Gesetzgeber stellt Arbeitszeitguthaben in bestimmten Fällen unter Schutz. Welche Fälle dies sind, verrät § 96 Abs. 4 S. 3 SGB III. 

§ 96 Abs. 4 S. 3 SGB III regelt, dass die Auflösung eines Arbeitszeitguthabens nicht verlangt werden kann, soweit es 

  1. vertraglich ausschließlich zur Überbrückung von Arbeitsausfällen außerhalb der Schlechtwetterzeit (§ 101 Absatz 1) bestimmt ist und den Umfang von 50 Stunden nicht übersteigt,
  2. ausschließlich für die in § 7c Absatz 1 des Vierten Buches genannten Zwecke bestimmt ist (z.B. Elternzeit, Pflegezeit, Altersteilzeit, usw.),
  3. zur Vermeidung der Inanspruchnahme von Saison-Kurzarbeitergeld angespart worden ist und den Umfang von 150 Stunden nicht übersteigt,
  4. den Umfang von 10 Prozent der ohne Mehrarbeit geschuldeten Jahresarbeitszeit einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers übersteigt oder
  5. länger als ein Jahr unverändert bestanden hat.

Weiterhin regelt § 96 Abs. 4 S. 4 SGB III, dass in einem Betrieb, in dem eine Vereinbarung über Arbeitszeitschwankungen gilt, nach der mindestens 10 Prozent der ohne Mehrarbeit geschuldeten Jahresarbeitszeit je nach Arbeitsanfall eingesetzt werden, ein Arbeitsausfall, der im Rahmen dieser Arbeitszeitschwankungen nicht mehr ausgeglichen werden kann, als nicht vermeidbar.

Für die betriebliche Praxis sind insbesondere § 96 Abs. 4 S. 3 Fall 4. und 5., sowie die Regelung in § 96 Abs. 4 S. 4 SGB III von Bedeutung.

§ 96 Abs. 4 S. 3 Fall 4: 

Arbeitszeitguthaben, das 10% der geschuldeten Jahresarbeitszeit (ohne Mehrarbeit) übersteigt, muss nicht verbraucht werden. 

Bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 40 h pro Woche sind 10% der jährlichen Arbeitszeit ca. 170 h. Die jährliche Arbeitszeit wird wie folgt berechnet = 40 h x 42,6 Wochen = 1.704 h. Eine bestimmte Anzahl von Tagen ist aufgrund von Urlaub, Wochenende und Feiertagen arbeitsfrei. Nach Abzug der arbeitsfreien Tage bleiben von 365 Tagen ca. 213 Tage übrig, bei 5 Arbeitstagen pro Woche ergibt dies 42,6 Wochen im Jahr.

§ 96 Abs. 4 S. 3 Fall 5: 

Arbeitszeitguthaben, die länger als ein Jahr unverändert bestehen, sind geschützt.

Die Auflösung eines Arbeitszeitguthabens kann nicht verlangt werden, soweit es länger als ein Jahr unverändert bestanden hat. Unverändert bedeutet nicht, dass das Guthaben keinerlei Schwankungen aufweisen darf. Geschützt ist der innerhalb eines Jahres vor Beginn der Kurzarbeit erreichte, niedrigste Stand. Wird die Kurzarbeit zum 01.04.2020 eingeführt, betrifft der maßgebliche Zeitraum die Zeitspanne vom 01.04.2019 bis zum 31.03.2019. Gab es bspw. im Jahr 2019 Schwankungen zwischen 200 h (Höchststand Mai 2019) und 100 h (niedrigster Stand November 2019), beträgt das geschützte Arbeitszeitguthaben 100 h. 

Eine weitere Privilegierung gilt für Gleitzeitguthaben, die nicht entgeltlich abgegolten werden. Bei einer Gleitzeitregelung muss das vor der Kurzarbeit angesammelte Zeitguthaben von den Arbeitnehmern zur Vermeidung/Verringerung des Arbeitsausfalls nicht abgebaut werden, wenn 

  • es im Rahmen des vereinbarten Gleitzeitrahmens verbleibt und
  • eine entgeltliche Abgeltung nicht vorgesehen ist. 

§ 96 Abs. 4 S. 4 SGB III: Arbeitszeitschwankungen für einen unterschiedlichen Arbeitsanfall 

Die Vorschrift des § 96 Abs. 4 Satz 4 privilegiert die Betriebe, in denen in einem bestimmten Mindestumfang (10% der Jahresarbeitszeit) Arbeitszeitschwankungen vereinbart sind, um die Arbeitszeit an die jeweilige Produktionskapazität anzupassen. Damit wird einer Minderauslastung der Kapazitäten entgegengewirkt und Kurzarbeit vermieden. Besteht eine solche Flexibilisierungsregelung und kann diese nicht mehr zur Vermeidung des Arbeitsausfalls genutzt werden, gilt die Annahme, dass in dem Betrieb alle betriebsorganisatorischen und urlaubsbezogenen Vorkehrungen getroffen wurden, um den Arbeitsausfall zu vermeiden. 

§ 96 Abs. 4 S. 3 Fall 4 und Fall 5 liegen gleichermaßen vor: 

Beim Zusammentreffen von Fall 4. und Fall 5. ist die für den Arbeitnehmer günstigere Berechnung maßgebend.

Positiver Saldo im Arbeitszeitkonto vor Einführung der Kurzarbeit 300 Stunden

10 % der Jahresarbeitszeit (von z. B. 1.700 Stunden) sind einzusetzen 170 Stunden

Geschütztes Guthaben nach § 96 Abs. 4 Satz 3 Nr. 4 SGB III (= restliches Arbeitszeitguthaben, dass 10% der Jahresarbeitszeit überschreitet) 130 Stunden

Kleinster unveränderter Monatswert des Guthabens in den letzten 12 Monaten 100 Stunden

Geschützes Guthaben nach § 96 Abs. 4 Satz 3 Nr. 5 SGB III 100 Stunden

Zur Vermeidung von Kurzarbeit sind einzubringen (300h – 130h) 170 Stunden

Fazit: 

Die pauschale Behauptung: „Bevor man Kurzarbeit einführen darf, müssen alle Arbeitszeitkonten auf 0 sein!“, ist somit nicht richtig. Unternehmen sollten daher unbedingt prüfen, ob die Arbeitszeitguthaben ihrer Beschäftigten nach § 96 Abs. 4 S. 3 u. 4 SGB III vollständig oder zumindest zu einem Teil geschützt sind.