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Schwerbehinderte Beschäftigte haben Anspruch auf Zusatzurlaub

Am 16.01.2019 hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Az.: 2 Sa 567/18) entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, schwerbehinderte Beschäftigte auf ihren Anspruch auf Zusatzurlaub hinzuweisen.

Am 16.01.2019 hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Az.: 2 Sa 567/18) entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, schwerbehinderte Beschäftigte auf ihren Anspruch auf Zusatzurlaub hinzuweisen. Weiterhin sind die Beschäftigten aufzufordern, den Zusatzurlaub in Anspruch zu nehmen. Kommen Arbeitgeber dieser Aufforderungs- und Informationspflicht nicht nach, haben Beschäftigte einen Anspruch auf Abgeltung des Zusatzurlaubs, wenn dieser in natura nicht mehr gewährt werden kann, etwa weil das Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung endet.

Schwerbehinderte Beschäftigte haben Anspruch auf Zusatzurlaub in Höhe von 5 Arbeitstagen, gem. § 208 Abs. 1 SGB IX. In dem Sachverhalt, welcher dem Rechtsstreit zugrunde lag, verlangte die schwerbehinderte Beschäftigte die Abgeltung dieses Zusatzurlaubs, da sie den Zusatzurlaub aufgrund des Endes des Beschäftigungsverhältnisses in natura nicht mehr wahrnehmen konnte. Der Arbeitgeber hielt dem entgegen, dass die Beschäftigte den Zusatzurlaub im laufenden Arbeitsverhältnis nicht geltend gemacht habe (was zutreffend war). Der Urlaubsanspruch sei daher untergegangen. Der Arbeitgeber vertrat weiterhin die Ansicht, dass er nicht verpflichtet sei, Beschäftigte auf mögliche Urlaubsansprüche hinzuweisen.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen konnte sich der Ansicht des Arbeitgebers nicht anschließen und führte folgendes aus:

„Der Anspruch der Klägerin besteht bereits deshalb, weil die Beklagte (Anmerkung: Beklagte = Arbeitgeber) während des Bestandes des Arbeitsverhältnisses die Klägerin weder auf den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte hingewiesen noch sie aufgefordert hat, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Dabei war die Beklagte verpflichtet, aufgrund ihrer Organisationsmacht ihren Betrieb so zu organisieren, dass die arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden.“

Nach dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen sei der Arbeitgeber verpflichtet, auf das Wohl und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen und ihn vor Gesundheitsgefahren zu schützen, wobei die sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Nebenpflichten auch auf die Aufklärung des Vertragspartners gerichtet sein können. Diese Nebenpflicht entstehe hinsichtlich des Zusatzurlaubes allerdings erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis von der Schwerbehinderung.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen sieht demnach hinsichtlich dieses Urlaubsanspruchs eine Aufforderungs- und Informationspflicht auf Seiten des Arbeitgebers.

Verletzt der Arbeitgeber diese Pflichten, besteht nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Schadensersatz in Form eines Ersatzurlaubs, der sich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einen Abgeltungsanspruch umwandle. Unerheblich sei, ob der Arbeitnehmer Urlaub beantragt und dadurch den Arbeitgeber in Verzug gesetzt habe. Es sei auch unerheblich, ob für die Gewährung von Urlaub eine Zeit nach dem Kalender bestimmt sei, oder ob ein Fall der ernsthaften und endgültigen Urlaubsverweigerung vorliege und sich der Arbeitgeber deshalb zum Zeitpunkt des Verfalls des Urlaubsanspruchs in Verzug befinde. Könne der Ersatzurlaubsanspruch wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr in natura in Anspruch genommen werden, sei dieser abzugelten.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da gegen die Entscheidung Revision vor dem Bundesarbeitsgericht eingelegt wurde.

Folgen für die Praxis:

Der Europäische Gerichtshof fordert von Arbeitgebern folgendes:

Arbeitgeber sollen konkret und in völliger Transparenz dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird (siehe  hierzu Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. November 2018 – C-684/16).

Das obige Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen zielt in dieselbe Richtung.

Demnach besteht für Arbeitgeber das Risiko, dass der Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgegolten werden muss, auch wenn dem Beschäftigten der Urlaubsantritt möglich gewesen wäre.

Diese Informations- und Aufforderungspflicht entsteht hinsichtlich des Zusatzurlaubes bei schwerbehinderten Beschäftigten allerdings erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis von der Schwerbehinderung.

Beschäftigte sollten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses prüfen, ob sie noch Anspruch auf Urlaub haben. Wenn sie auf das Bestehen dieses Urlaubsanspruchs nicht hingewiesen wurden und/oder nicht in die Lage versetzt wurden, den Urlaub tatsächlich zu nehmen, kommt ein Abgeltungsanspruch in Betracht. 

Urlaubsrecht – Obacht: Das sagt der EuGH

Nach der Rechtsprechung des EuGH ändert sich das Urlaubsrecht wie folgt:
  1. Der Resturlaubsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist abzugelten, auch wenn der Arbeitnehmer den Urlaub gar nicht beantragt hat und die Wahrnehmung des Urlaubs in natura noch möglich war – es sei denn, der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer über mögliche Anspruchsverluste genau informiert.
  2. Der Anspruch auf Vergütung eines nicht in Anspruch genommenen Jahresurlaubs kann auf Erben übergehen. 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden (Rechtssachen vom 06.11.2018 – C-619/16 und C-684/16), dass das Versäumnis, einen Urlaubsantrag zu stellen, nicht zwangsläufig den Verlust des Anspruchs auf Vergütung der Resturlaubstage zur Folge habe. Der Geldanspruch gehe nur dann unter, wenn der Arbeitgeber den Mitarbeiter umfassend über die Sachlage informiert hat. Die Beweislast für die Aufklärung trägt der Arbeitgeber.

In dem Sachverhalt, welcher dem Urteil zugrunde lag, endete das Beschäftigungsverhältnis zu einem festgelegten Termin; der Beschäftigte hatte seinen Urlaub nicht vollständig genommen und beanspruchte die Entschädigung des Urlaubsanspruchs in Geld. Der Arbeitgeber lehnte eine Zahlung ab und begründete dies damit, dass der (ehemalige) Beschäftigte nicht daran gehindert gewesen sei, seinen Urlaub zu nehmen, er habe es vielmehr versäumt, seinen Urlaub zu beantragen. Die Abgeltung des Urlaubs müsse nur dann erfolgen, wenn der Beschäftigte den Urlaub „unverschuldet“ nicht hätte nehmen können, wie es bspw. bei einer Erkrankung der Fall sei.

Dieser Ansicht konnte sich der EuGH nicht anschließen. Das Recht auf Jahresurlaub für alle Beschäftigten sei in der Charta der Grundrechte der EU verankert und gehe zwangsläufig mit der Pflicht des Arbeitgebers einher, diesen Urlaub auch zu gewähren – oder eben eine Vergütung zu zahlen, wenn das Beschäftigungsverhältnis ende. Dass hierfür ein Urlaubsantrag gestellt werden müsse, sei nicht erforderlich.

Eine Ausnahme räumte der EuGH jedoch ein: Wenn der Beschäftigte tatsächlich in die Lage versetzt werde, seinen Urlaub rechtzeitig zu nehmen, könne ein Anspruch auf Geldentschädigung ausgeschlossen sein. Der Arbeitgeber müsse darüber allerdings aufklären. Ob er dies getan habe, müsse er beweisen. Könne der Arbeitgeber dies beweisen und habe der Beschäftigte auch faktisch die Möglichkeit, Urlaub zu nehmen, sei ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung auch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach dem EuGH ausgeschlossen.

In anderen Fällen (Rechtssachen C-569/16 und C-570/16) urteilte der EuGH zum Urlaubsanspruch, dass Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers von dessen ehemaligem Arbeitgeber eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verlangen können. Der Anspruch könne nach dem EuGH im Wege der Erbfolge auf seine Erben übergehen.

Fazit:
Arbeitgeber müssen ihre Beschäftigten zwar nicht zwingen, Urlaub zu beantragen, sie müssen ihre Beschäftigten jedoch über die Gefahr des Urlaubsverlusts informieren und in die Lage versetzen, den Urlaub zu nehmen. Andernfalls besteht für Arbeitgeber das Risiko, dass der Urlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgegolten werden muss, auch wenn dem Beschäftigten der Urlaubsantritt möglich gewesen wäre. Diese Information kann bspw. in einer Muster-Klausel im Arbeitsvertrag, in einer Dienstanweisung oder in einer jährlich wiederkehrenden Mitarbeiterinformation erfolgen.